Kolumne zum Nachteilsausgleich | Alexandra Schütte | 14.10.2023 | Lesedauer: 2 min
„Ich brauche eine Brille.“ – wieso wir uns diese klare Aussage merken sollten und uns das in der Bildung nach vorne bringt
Jeder, der diesen Satz gerade liest oder hört, assoziiert damit eine Vorstellung: sei es das eigene Gesicht, weil man selbst Brillenträger ist, sei es das Gesicht eines Familienmitglieds, Freundes, seines Augenarztes oder Optikers, eine Werbung, eine Brille, die man immer schon mal haben wollte oder gar auch die Anekdote der ewig verlegten Brille, die an den undenkbarsten Orten wieder auftaucht und sei es auf dem Kopf des Suchenden.
Ich selbst verbinde damit die Tatsache, dass meine Arme beim Lesen immer länger wurden und irgendwann die natürliche Armlänge ausgeschöpft war. Also ging ich mutig zum Optiker, der mir mit einer detaillierten Auswertung darlegte, was ich ohnehin ahnte: Altersweitsichtigkeit. Eigentlich eine Weitsichtigkeit, aber anscheinend ab einem gewissen Alter dann eine Al-ters-weit-sich-tig-keit. Doch damit nicht genug: jedes Auge hat seine eigene Weitsicht. Eine Lesebrille vom Discounter, nach Sehstärken sortiert, war also keine Lösung. Egal!
Fakt: ich brauche eine Brille!
Ich suchte mir sofort ein Gestell aus, überlegte kurz, ob ich auch diese Bänder für die Bügel mitorderte, da ich ja eine Lesebrille benötigte, die ich mal auf- und mal absetzte. Ich habe es nicht getan und siehe da: die Brille ist immer da, wo ich nicht bin. Egal!
Fühle ich mich schlecht mit einer Brille? – auf gar keinen Fall! Ich sehe wieder alle Buchstaben, kann länger lesen ohne dass mir die Augen brennen und teile mein Schicksal – offensichtlich - mit ganz vielen anderen.
Doch was steckt hinter diesem Satz: „Ich brauche eine Brille.“?
Bis zu dieser Aussage bedarf es eigener Beobachtungen, Tests beim Optiker oder Arzt und eines passenden Rezeptes - bei (Klein)Kindern hingegen bedarf es den Beobachtungen der Menschen aus dem Umfeld, der Erwachsenen, Tests beim Optiker und/oder Arztes und eines passenden Rezeptes.
Doch was bedeutet dieser Satz „Ich brauche eine Brille“ aus anderer Sicht?
Ein Experte hat festgestellt, dass ich eine Sehschwäche habe und ich genau diese Brille als Nachteilsausgleich bekommen sollte. Aus dem Rezept geht hervor wie genau die Sehschwäche ausfällt und ich suche mir das passende Gestell aus, damit es mir auch mit dieser Lösung gutgeht. Und an alle, die ohne Brille (Sehhilfe) unterwegs sind: ich kann deswegen nicht weiter schauen, ich sehe die Welt nicht bunter oder gar mehr als ihr, sondern ich kann nun wieder alles so sehen wie ihr ohne Brille – ihr braucht also weder neidisch sein noch euch benachteiligt fühlen.
Und was hat das jetzt mit Bildung zu tun?
Die Lese-Rechtschreib-Schwäche und/oder Rechenschwäche wird von Experten diagnostiziert und es gibt dafür einen Nachteilsausgleich, der individuell auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet werden kann/soll/darf/muss, wobei jede Schule für sich agieren muss und dieses auf 9 Seiten vom Bildungsministerium NRW auf der Homepage nachzulesen ist.
Kurz: hätte, sollte, müsste, könnte! Es fehlt hier das Wort machen, um den Kindern direkt zu helfen und wenn Sie jetzt beim Lesen des Satzes genauso nervös werden wie ich beim Schreiben und nichts verstanden haben, dann wissen Sie wie sich Kinder fühlen, die nicht einfach sagen können:
„Ich habe eine Lese-Rechtschreibschwäche und brauche einen Nachteilsausgleich!“
„Ich habe eine Rechenschwäche und brauche einen Nachteilsausgleich!“
Manch einer wird jetzt verwundert reagieren, da seit geraumer Zeit das Wort Lese-Rechtschreibschwäche nicht mehr aus den Medien wegzudenken ist. Selbst die Politik hat doch bereits reagiert und 60 Minuten verbindliche Lesezeit pro Woche in den Grundschulen verordnet.
Wir erinnern uns an die Sehschwäche: diese Lösung kommt einer Angebotspalette des Optikers, der nur rahmenlose Brillen für Weitsichtige herausgibt und das Rezept der Experten lediglich als „erledigt“ stempelt und abheftet gleich.
Kurz: diese Verordnung hat mit individueller Gestaltung eines Nachteilsausgleichs und Umsetzung nichts zu tun.
So müssen sich die Kinder – meistens die Sorgeberechtigten – durch den Irrsinn kämpfen und selbst einlesen und an die Experten wenden. Nur wer weiß wie das System funktioniert kommt auch zum Ziel.
Das Bildungssystem hat da irgendwo einen Erlass, die Schulen sind überfordert, da sie im sonst so reglementierten Lehrplan plötzlich Gestaltungsmöglichkeiten haben und sich sorgen zu „partnerschaftlich“ zu agieren und dann sind da ja auch noch jene, die nichts benötigen und laut schreien: un-ge-recht!
Das ganze System erinnert an Gleis 9 3/4. Nur wer die Säule der Bildung findet, darf in der Winkelgasse staunen und seinen Nachteilsausgleich bedarfsgerecht zusammenstellen. Alle Nichtwissenden laufen vor die versteinerte Säule und bleiben mit einer Beule benommen liegen.
Kehren wir noch einmal gedanklich zurück zu unserem Brillenfachgeschäft. Stellen Sie sich als Brillenträger Ihr Fachgeschäft des Vertrauens vor und alle anderen ein beliebiges Fachgeschäft und schätzen wie groß und vielfältig das Angebot an Brillen ist oder sein soll: mit Rahmen, ohne Rahmen, bunt, einfarbig, dunkel, hell, dick, dünn…alles was das Herz begehrt! Und wenn dann der Rahmen passt, werden die passenden Gläser eingearbeitet.
Kurz: wenn zwei augenscheinlich die gleiche Brille tragen, sind die Gläser dennoch individuell.
Wenn wir diese Individualität in der Bildung erreichen, traut sich auch jede:r klar und deutlich zu sagen:
„Ich brauche (m)einen Nachteilsausgleich!“
Die an dieser Stelle vorgesehenen Inhalte können aufgrund Ihrer aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt werden.
Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Diese Webseite verwendet Cookies, um Besuchern ein optimales Nutzererlebnis zu bieten. Bestimmte Inhalte von Drittanbietern werden nur angezeigt, wenn die entsprechende Option aktiviert ist. Die Datenverarbeitung kann dann auch in einem Drittland erfolgen. Weitere Informationen hierzu in der Datenschutzerklärung.